Introduction

Thursday, November 17, 2011

John Cage - 4'33"



Nichts zu hören
John Cages »4’33’’« ist das einfachste Stück von allen: Komponierte Stille. Auftakt der neuen Serie "50 Klassiker der modernen Musik"
Am 29. August 1952 spielte der amerikanische Pianist David Tudor in New York die Uraufführung einer neuen Komposition. Er nahm am Flügel Platz, schloss den Klavierdeckel, harrte exakt 4 Minuten und 33 Sekunden an seinem Instrument aus und öffnete den Deckel wieder. Tudor spielte – nichts. Die Zuhörer reagierten mit Irritation, begannen zu tuscheln, verließen den Saal oder empörten sich. Manche wussten nicht einmal, dass sie überhaupt eine Komposition gehört hatten. Der Urheber des Stücks war John Cage. Er hatte mit etwas geschaffen, was es in der abendländischen Kunstmusik bis dahin noch nicht gab – komponierte Stille, das Schweigen als künstlerischer Akt, Musik als Nichtmusik.
Die Partitur von 4’33’’, die bei Edition Peters im Druck erschienen ist, besteht aus einen weißen Blatt Papier, auf dem dreimal das Wort tacet geschrieben steht. Cage hat sein Schweigestück in drei Sätze gegliedert. Der erste habe bei der Uraufführung 33 Sekunden gedauert, der zweite zwei Minuten und 40 Sekunden und der letzte eine Minute und 20 Sekunden, aber man könne das Werk auch in jeder anderen beliebigen Satzlänge aufführen, heißt es in einer Anmerkung. Und die Besetzungsvorschrift lautet: »Für jedes Instrument oder jede Kombination von Instrumenten.«
Natürlich wurde das Stück als Provokation empfunden. Der Zuhörer, der in einem Konzert Töne erwartet, wird sich bis heute bei einer Aufführung von 4’33’’ an die Stirn tippen und um die Musik betrogen fühlen. Dabei hat Cage es gar nicht provozierend gemeint. Das Werk hat für ihn einen öffnenden, die Wahrnehmung befreienden Charakter. Es folgt der einfachen Erkenntnis, dass überall, wo gehört wird, auch Musik ist. Und für Cage gehörten eben auch Geräusche, Alltagslärm, Zufallsklänge und Publikumsreaktionen zur Musik. Auf sie lenkt er die Aufmerksamkeit, indem er sich nichts als Schweigen wünscht und das, was währenddessen passiert, zum eigentlich Komponierten erklärt. In seiner Lecture on Nothing, die er zwei Jahre vor der Uraufführung von 4’33’’ gehalten hatte, schrieb Cage: »Struktur ohne Leben ist tot. Aber Leben ohne Struktur ist nicht wahrzunehmen. Pures Leben drückt sich in und durch Struktur aus.« Deshalb gab er dem Nichts einen Rahmen.
Cage hatte sich, bevor er das Stück komponierte, in einen schalltoten Raum im Keller der Harvard University einschließen lassen, um der Stille auf die Spur zu kommen. Aber er vernahm trotzdem etwas – den eigenen Herzschlag, die Geräusche des Blutkreislaufs und Frequenzen, die von seinem Nervensystem ausgingen. Die absolute Stille, folgerte er, kann es nicht geben. So ließ er das absichtslose Tönen der Welt in sein kompositorisches Schaffen hinein und durch die Stücke hindurch.
4’33’’ steht als stumme Botschaft für eine Zeit, in der man den Musikbegriff unbedingt erweitern will. In der Kunst sind Marcel Duchamps Readymades und die weißen Leinwände von Robert Rauschenberg nicht weit. Happenings und Aktionskunst haben Konjunktur. Und Cage ist über die Musik hinaus der große Anreger und Vordenker. Er träumt von herrschaftsfreien Klangbeziehungen, erwürfelt die Töne mit Hilfe von Zufallsoperationen nach dem chinesischen Orakelbuch I Ging, er reflektiert in seinen Werken den musikalischen Zeitbegriff, ist Postdadaist, Anarchist, Zen-Buddhist und Avantgardist in einem. Kein Zufall, dass Cage es war, der dieses einfachste aller denkbaren Musikstücke geschrieben hat, auf das natürlich sein berühmtes Zitat zutrifft: »Sie müssen es nicht für Musik halten, wenn dieser Ausdruck sie schockiert.«
Warum wird 4’33’’ eigentlich so selten aufgeführt, obwohl es doch gar nicht schwer zu spielen ist? Cage hat ein paar Jahre nach der Uraufführung erklärt, er benötige das Stück nicht mehr, da er in der Lage sei, es ständig zu hören. Davon sind wir heute weit entfernt.
aus: Die Zeit, 

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